1986
Prince and the Revolution

Kiss

Song und Musikvideo KISS von Prince and the Revolution zeichnet einen äußerst kreativen Umgang mit der Inszenierung der Stimme in musikalischer und audiovisueller Hinsicht aus, bei denen Geschlechterrollen auf den Kopf gestellt werden.

I. Entstehungsgeschichte

KISS wurde ursprünglich von Prince für die Band Mazarati geschrieben, Prince selbst war aber von deren Bearbeitung so überzeugt, dass er sich 1985 dazu entschied, KISS selbst noch einmal einzuspielen und auf das Album Parade seiner Band Prince and the Revolution aufzunehmen. Gegen den Widerstand seines Labels veröffentlichte Prince KISS 1986 als Single und produzierte unter der Regie von Rebecca Blake ein Musikvideo.

II. Kontext

Der Song ist typisch für einen affirmativen Umgang männlicher Popmusiker mit vermeintlich weiblichen Gesangs- und Kleidungsattributen, der sich in den 1980er-Jahren entwickelt hat und paradoxerweise durchaus als Ausdruck exzentrischer Männlichkeit zu sehen ist. Prince singt in hohem Falsett, das er oftmals ins Schreien übergehen lässt und ist androgyn gekleidet. Princes Lederjacke, die er im Musikvideo über nacktem, durchtrainiertem Oberkörper trägt, erinnert etwa an den Lack-und-Leder-Kleidungsstil des Heavy Metal, wie ihn insbesondere Rob Halford von Judas Priest aus der Schwulenszene übernommen und im Heavy Metal etabliert hat. Auch im gerade sich entwickelnden HipHop der 1980er-Jahre, etwa bei Melly Mel von Grandmasterflash and the Furious Five, der HipHopBand der ersten Stunde, wird ein outriertes Lederoutfit mit nacktem, muskulösem Körper kombiniert.

Princes extrem angestrengtes Schreien mag eine ironische Reminiszenz an den Heavy Metal sein, das hohe Falsett, das er an anderen Stellen einsetzt, stellt ihn eher in die Gesangstradition von Funksängern wie Curtis Mayfield oder Isaac Hayes, die insbesondere durch ihre Soundtracks der Blaxploitation-Filme (Shaft, Super Fly) in den 1970er-Jahren mit Falsett (oder einfach hoher Stimmlage) das Bild eines schwarzen, potenten Verführers transportieren. Auch hier vollzieht sich diese Referenz eher ironisch. Ob bewusst oder unbewusst wendet Prince insofern von feministischen Theoretikern in dieser Zeit eingeforderte Verfahren an, um durch übertriebene Affirmation Genderrollen unglaubwürdig zu machen.

III. Analyse

Auf allen drei Ebenen, Text, Musik und Bild, inszeniert Prince eine uneindeutige und spannungsreiche Zuordnung zum Geschlecht und zu Geschlechterrollen. Auf den ersten Blick beinhaltet der Text für die Popmusik typische Allgemeinplätze, in denen ein männliches lyrisches Ich eine Frau durch Versprechen und Selbstlob verbal zu verführen versucht. Der Refrain, in dem das lyrische Du als “my girl” bzw. “woman” angesprochen wird, bringt dabei deutlich zum Ausdruck, dass das lyrische Ich einen Kuss möchte.

Die im Refrain verwendeten Zeile “you don’t have to be rich to be my girl” verweist auf den Temptations-Song “My Girl”, einen viel gecoverten Nummer 1-Hits aus dem Jahr 1965. Allerdings wird der gerade für Blues und Soul klassische Besitzanspruch, den ein Mann an seine Frau stellt und der sich auch bei den Temptations zeigt, bei Prince relativiert, da lediglich von einer “extra time” gesprochen wird. Zusammen mit anderen Allgemeinplätzen wie “we could have a good time”, “I just need your body baby”, “I’m gonna show you what it’s all about” wird suggeriert, dass es eher um ein Abenteuer als um eine Beziehung geht. Die Feststellung, das Objekt der Verführung müsse weder reich oder cool sein, noch schlüpfrig reden (“talk dirty”), ist eine Absage an klassisch männliches Verführungsverhalten in der populären Musik. Der Appell an das lyrische Du, erwachsen zu agieren, dem Alter gemäß und nicht der Schuhgröße (die amerikanischen Größen gehen nur bis 15), zusammen mit dem Hinweis, dass das lyrische Ich von Frauen und nicht von Mädchen schwärmt, lässt sich indes wahlweise als Interesse an selbstbewussten, reifen Frauen verstehen oder tatsächlich als Unterstellung, dass vernünftiges Verhalten als passives Verhalten verstanden wird: Der folgende Appell “you just leave it all up to me, my love will be your food” unterstreicht dies und spielt damit zudem auf oralen Geschlechtsverkehr an. Ebenso ließe sich die Zeile “ain’t no particular sign I’m more compatible with” wahlweise als Interesse an Frauen jedweden Sternzeichens oder als bisexuelle Avance sehen, wenn man unter “sign” die Geschlechterzeichen versteht. Bezeichnenderweise erscheinen das darauffolgende Album und die Maxisingle von Prince mit dem Titel “Sign o’ the times”, bei dem Prince ein weißes bauchfreies Kleid trägt und sich ein schwarzes Herz aus Pappe vor das Gesicht hält, sodass man ihn genauso gut als Frau identifizieren könnte. Das “o'”, eigentlich Abkürzung von “of”, steht in Anführungszeichen und ist mit dem Peace-Zeichen ausgefüllt.

Auch auf musikalischer Ebene wird mit der Geschlechterzuordnung gespielt. Princes Stimme, eine “der interessantesten und vielgestaltigsten Stimmen der letzten dreißig Jahre Popgeschichte” (Bielefeldt 2007: 202), verwendet die extrem hohe Stimmlage mit einer gewissen Distanz zu den erwähnten Gesangstraditionen. Diese Distanz wird insbesondere deutlich, wenn seine hohe Stimmlage bewusst ins Kreischen kippt, aus seiner eigentlichen sauberen Falsett-Technik ein eher unkontrollierter und unbeherrschter Schrei nach Liebe wird. Hier zeigt sich eine gewisse Nähe zum “Camp”, einem für homosexuelle Kreise in den USA typisches, outriert-künstliches Verhalten. Susan Sontag beschrieb dieses Prinzip 1982 (also einige Jahre vor Kiss) als Kunst, eine ironisch-distanzierte Haltung zu allem einzunehmen (vgl. Sontag 1982: 109).

Bei der visuellen Inszenierung der Stimme wird diese uneigentliche, um nicht zu sagen künstliche Singweise noch deutlicher zum Ausdruck gebracht, etwa wenn die vokale Performance von Prince und sein Appell, keinen Dirty Talk zu machen, durch die Gitarristin Wendy und ihren ironischen Gesichtsausdruck gebrochen wird (1:17). Kurz darauf wird bei einem, von einem Chor eingestreuten, “aha” ein verschleierter Sänger gezeigt, wobei nicht klar ist, ob es sich nun um Prince oder die Tänzerin, das deutsche Fotomodell Monique Manning, handelt. Durch diesen spielerischen Umgang mit dem Lip-Synching, der beim Musikvideo typischen, nachträglichen visuellen Synchronisierung der Lippenbewegung auf die Musik, wird die daraus resultierende Rezeptionshaltung, die gehörte Musik durch “Substitution” mit den zu sehenden Personen zu verkoppeln, welche die Lippen bewegen, wieder gebrochen (vgl. Klug 2011: 204). Deutlich wird dies insbesondere dann, wenn ein von Prince gesungenes gutturales “yeah” aus einem tieferen Stimmregister erklingt und dabei die Tänzerin Monique Manning zu sehen ist, die das Lip-Synching mit einem gespielt “männlichen” Gesichtsausdruck vollzieht, was wiederum einen ironisch-abschätzigen und erstaunten Blick von Prince zu Manning zur Folge hat.

Dieses Spiel mit den Geschlechterzuordnungen setzt direkt mit Beginn des Musikvideos ein. Dieses beginnt mit einer unscharfen Einstellung, in der nur Schemen zu sehen sind, sodass man auf den ersten Blick geneigt ist, die Gitarristin Wendy Melvoin, die mit Cowboystiefeln, Gitarre und kurzen Haaren ausgestattet auf dem Barhocker sitzt, als Mann zu identifizieren. Zumal dies ein Setting ist, das stilbildend für Country- und Rockballaden mit akustischen Gitarren ist, die zumeist von Männern gespielt werden. Dazu passt ihre halbakustische Gitarre, die nicht gerade typisch ist für die Funkparts, die sie spielt, zumal Verstärker oder Effekte (Wah-Wah), die sie auf der Aufnahme verwendet, nicht zu sehen sind (ebensowenig ist die Keyboarderin zu sehen, die neben der Drummachine die einzige musikalische Begleitung beisteuert). Melvoin legt in ihrem Verhalten gerade die besagte Coolness an den Tag, an der sich die angesprochene Person des Liedtextes eben nicht orientieren soll; sie verhält sich eher gleichgültig abweisend bis ironisch abschätzig gegenüber Prince und zuckt nur lässig mit der Schulter.

In einer einzigen Szene (0:45) sieht man sie in einem intimen tête à tête mit Prince, was allerdings auch als eine selbstironische Anspielung zu verstehen ist. Denn die Gitarristin Wendy Melvoin, die in einer lesbischen Beziehung mit der Keyboarderin Lisa Colman aus der Band lebte, hat eine eineiige Zwillingsschwester Susannah Melvoin, die wiederum in der Band Background-Sängerin und ihrerseits Lebensgefährtin von Prince war (vgl. ihr coming-out-Interview auf [5.4.2012]). Insofern ließe sich diese Szene des tête-à-tête mit Prince auch als ein Moment sehen, in dem sie in die Rolle ihrer Zwillingsschwester schlüpft.

Der Kleidungsstil von Prince im Musikvideo folgt dem Prinzip des Cross-Dressing androgyn, bei dem Geschlechterrollen kleidungstechnisch vertauscht werden. Prince trägt immer eine mit goldenen Knöpfen versehene, enge Lederhose und dazu hohe Absatzschuhe, wie sie auch Tangotänzer tragen. Dazu trägt er mal ein bauchfreies Top, mal ist sein nackter Oberkörper samt Brustbehaarung zu sehen, manchmal trägt er auch eine Lederjacke, die man in gewisser Weise der Schwulenszene zuordnen könnte, aber auch typisch für die Heavy Metal Szene der Zeit war. Ebenso ambivalent ist der Auftritt der Tänzerin. Zum einen ist sie mit Schleier und Sonnenbrille maskiert, sodass aufgrund gewisser physiognomischer Ähnlichkeiten oft gar nicht entschieden werden kann, ob nun tatsächlich die Tänzerin oder nicht doch Prince zu sehen ist. (An einer Stelle (0:59) wird diese Ambivalenz durch Überblendungstechnik noch unterstrichen.) Die gemeinsamen Tanzeinlagen zitieren den für den Tango typischen Kampf der Geschlechter (2:50). Mal führt Prince die Tänzerin, an anderen Stellen läuft er ihr hektisch hinterher und bricht so auch diese Tanzkultur (2:57)

Andererseits ließe sich dadurch, dass Prince mit nacktem Oberkörper und schwarzer Hose und die Tänzerin mit nackten Beinen und mit schwarz verdecktem Oberkörper zu sehen ist, dies auch als visuelle Inszenierung eines Hermaphroditen interpretieren. Bei Ovid wurde Hermaphrodit von der Nymphe Salmakis umschlungen, bis beide zu einem Körper verschmolzen und auch einzelne Tanzszenen bei Prince ließen sich als intertextuellen Verweis darauf deuten, wobei in den klassischen Abbildungen von Hermaphroditen in der Regel genau umgekehrt der weibliche Oberkörper mit dem männlichen Unterleib kombiniert wird (vgl. Delcourt 1988). Überträgt man Elizabeth Woods Bezeichnung des „sonic cross-dressing“ (Wood 1994: 32), bei der Frauenstimmen zwischen dunkler Bruststimme in tiefen Lagen und hohem Falsett wechseln, von der Oper auf die populäre Musik lässt sich hier, zu dem vestimentären ein gesangliches Cross-Dressing beobachten. Dabei stehen sich Prince und Manning chiastisch gegenüber und zudem wird noch das jeweilige Cross-Dressing durch ironische Gesichtsausdrücke der anderen Seite gebrochen (von Prince gegenüber Manning, und umgekehrt von Melvoin gegenüber Prince). Wobei von Prince das sonic cross-dressing durch sein Falsett tatsächlich durchgeführt, von Manning dieses durch das lip synching simuliert wird.

Zu dieser Genderambivalenz kommt, dass Prince den in der Schwulenszene verbreiteten Tanzstil des Vogueing imitiert, der zu Beginn der 1960er Jahre in der homosexuellen Subkultur von New York Harlem entstand und der einige Jahre nach Prince durch Madonnas Song Vogue populär wurde. Den Tanzstil zeichnen seine typisch streng linearen und rechtwinkligen Arm- und Beinbewegungen aus sowie das “framing”, das Einrahmen des Gesichts durch die Hände (vgl. Becquer 1991). Letzteres zeigt sich deutlich auf dem Albumcover von Parade, dem Album, auf dem KISS als Song veröffentlicht wurde, und auf dem Prince das gleiche Oberteil wie im Musikvideo trägt.

IV. Rezeption

KISS ist zweifellos einer der bekanntesten Songs von Prince und wurde in den USA ein Nr. 1-Hit und erreichte auch in Großbritannien die Top Ten. Darüber hinaus erhielt Prince einen Grammy für die Beste Rhythm & Blues Performance. Die Zeitschrift New Musical Express kürte den Song auf Platz 4 der 150 besten Singles aller Zeiten. Die bekannteste Coverversion stammt sicherlich von Tom Jones, die er bereits 1988 mit der Band Art of Noise aufnahm. In Deutschland coverte Max Raabe mit seinem Palastorchester den Song. Im Musikfilm Under the Cherry Moon, den Prince produzierte und die Hauptrolle übernahm, erklingt ein Auszug aus KISS, wenn sich die Protagonisten tatsächlich küssen. Im Spielfilmbereich prägender ist allerdings der Filmklassiker Pretty Woman, in dem Julia Roberts in der Rolle der Prostituierten Vivian Ward den Song in der Badewanne singt.

 

FERNAND HÖRNER


Credits

Lead Vocals: Prince
Gitarre: Wendy Melvoin
Keyboard: Lisa Coleman
Background-Vocals: Mazarati
Musik, Text: Prince
Produzent: Prince
Label: Paisley Park
Aufnahme: 28. April 1985
Veröffentlichung: 5. Februar 1986
Länge: 3:38 (Album Version)
3:46 (7″ Single Version)
7:16 (12″ Single Version)

Recordings

  • Prince and the Revolution. “Kiss”, Parade, 1986, Paisley Park, 925395-1, USA (LP/Album).
  • Prince and the Revolution. Kiss, 1986, Paisley Park, 20442-0 A, US (12″).
  • Isaac Hayes. Shaft (Music from the Soundtrack), 1971, Enterprise Records, ENS-2-5002, US (2xLP/Album).
  • Curtis Mayfield. Super Fly, 1972, Curtom, CRS 8014 ST, US (LP/Album).
  • The Temptations. “My Girl”, My Girl, 1986, Motown, ZT 40744, Deutschland (12″).

Covers

  • Max Raabe mit seinem Palastorchester. “Kiss”, Krokodile und andere Hausfreunde, 2000, BMG Ariola, 74321 72687 2, Deutschland (CD).
  • Art of Noise featuring Tom Jones. Kiss, 1988, China Records, 871 039-1, USA (12″/Single).

References

  • Becquer, Marcos/Gatti, José: Elements of Vogue. In: Third Text 16-17. London 1991, 65-81.
  • Bielefeldt, Christian: Voices of Prince. Zur Popstimme. In: Popmusicology. Perspektiven der Popmusikwissenschaft. Ed. by Christian Bielefeldt, Udo Dahmen, Rolf Großmann. Bielefeldt: transcript 2007, 201-219.
  • Delcourt, Marie/Hoheisel, Karl: Hermaphroditos. In: Reallexikon für Antike und Christentum (Bd. 14), Stuttgart: Hiersemann 1988, 650-682.
  • Klug, Daniel: (Un-)Stimmigkeiten. Zur Darstellungspraxis des lip synching in der Audio-Vision des Musikclips. In:Populäre Musik, mediale Musik? Transdisziplinäre Beiträge zu den Medien der populären Musik. Ed. by Christofer Jost, Daniel Klug, Axel Schmidt, Klaus Neumann-Braun. Berlin: Nomos 2011, 201-230.
  • Sontag, Susan: Notes on Camp. In: A Susan Sontag Reader. Ed. by Elizabeth Hardwic. New York: Farrar 1982, 105-119.
  • Wood, Elizabeth: Sapphonics. In: Queering the Pitch: the New Gay and Lesbian Musicology. Ed. by Philip Brett, Elizabeth Wood, Gary C.Thomas. New York: Routledge 1994, 27-66.
  • Wendy Melvoin. Coming-out-Interview von Barry Walters geführt, 16.04.2009. URL: http://www.out.com/entertainment/2009/04/16/revolution-will-be-harmonized [20.04.2012].

Films

  • Beat Street. Regie: Stan Lethen. Drehbuch: Andrew Davis. 20th Century Fox, 1984. (DVD/ 1004378).
  • Shaft. Regie: Gordon Parks. Drehbuch: Ernest Tidyman, John D.F. Black. Warner Home Video, 1971. (DVD/ 1000001959).
  • Super Fly. Regie: Gordon Parks Jr. Drehbuch: Philip Fenty. Warner Home Video, 1972. (DVD/ 28888).
  • Under the cherry moon. Regie: Prince. Drehbuch: Becky Johnston. Warner Home Video, 1986. (DVD/ 335338).
  • Pretty Woman. Regie: Garry Marshall. Drehbuch: J.F. Lawton. Buena Vista Home Entertainment, 1990. (DVD/ 03997200).

About the Author

Prof. Dr. Fernand Hörner teaches Culture, Aesthetics, Media at the Faculty of Social Sciences and Cultural Studies at the University of Applied Sciences Düsseldorf. He is as well Co-Editor of the Encyclopedia of Songs.
All contributions by Fernand Hörner

Citation

Fernand Hörner: “Kiss (Prince and the Revolution)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/kiss, 04/2012 [revised 10/2013].

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