1979
Pink Floyd

Another Brick in the Wall

Aus der autobiographischen Perspektive von Roger Waters rechnet ANOTHER BRICK IN THE WALL mit dem autoritären Schulsystem der Nachkriegszeit ab und wurde weltweit eine Hymne nicht nur rebellierender Teenager.
Ende der 70er Jahre war das britische Quartett Pink Floyd auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, geriet jedoch zugleich unter erheblichen finanziellen Druck, da eine Investmentfirma das Vermögen der Band verspekuliert hatte. Nach Anfängen im Psychedelic-College-Rock um 1970 erreichte die Band in dieser Zeit auf ausgedehnten Stadiontourneen ein Millionenpublikum und realisierte immer aufwändigere multimediale Inszenierungen ihrer Musik. The Wall war die erklärte Absage an die Stadionkonzerte und wurde mit hohem technischem Aufwand ausschließlich in Hallen aufgeführt.

I. Entstehungsgeschichte

ANOTHER BRICK IN THE WALL ist das titelgebende Stück der Doppel-LP (Veröffentlichung 30.11.1979), des live präsentierten Rock-Spektakels (Uraufführung 7.2.1980 in Los Angeles) und des Spielfilms The Wall (Uraufführung 1982 in Cannes außerhalb des Wettbewerbs).

Der Song aus der Feder von Roger Waters erschien in drei Versionen auf dem Doppelalbum The Wall, das Pink Floyd von April bis November 1979 nach monatelangem Proben und Überarbeiten der Stücke aufnahm und das neben Roger Waters und David Gilmour von Bob Ezrin und James Guthrie produziert wurde. Ursprünglich sollte ANOTHER BRICK IN THE WALL Part I-III “Reminiscing”, “Education” und “Drugs” heißen.

Produzent Ezrin erkannte das Hit-Potential des Stücks und brachte es vorerst gegen Waters’ Veto (“We don’t make singles.”) auf Radio-taugliche Länge, steuerte die Idee des Art-Rock untypischen Disco-Beats bei und ließ – wie er dies bereits als Produzent von Alice Coopers “School’s Out” getan hatte, Schüler einer Schule aus der Nähe des Studios im Londoner Islington den Refrain als einstimmigen Chor einsingen.

Die Shows (Licht, Projektionen, überdimensionale Requisiten etc.), aber auch die Kompositionen (Umweltgeräusche, Programmmusiken, Raumeffekte) von Pink Floyd tragen seit den Anfangstagen der Band Züge des Narrativ-Szenischen. The Wall stellt den Höhepunkt dieser Tendenz dar. Der Dreischritt Album-Show-Film war von Anfang an geplant gewesen. Ursprünglich hatte sich Roger Waters einen Film, bestehend aus gefilmten Ausschnitten der Bühnenshow ergänzt durch Spielszenen mit sich selbst in der Hauptrolle, vorgestellt. Im Laufe der Arbeit konnte der Regisseur Alan Parker ihn davon überzeugen, dass Bob Geldorf die ideale Besetzung der Hauptrolle wäre, zudem erwies sich die Verwendung von Konzertmitschnitten angesichts der ungünstigen Lichtverhältnisse bei den Shows mit dem hohen Anspruch an die Auflösung des Filmmaterials als nicht vereinbar. Letztlich entstand ein Spielfilm mit einmontierten phantastischen Zeichentrickpassagen nach Vorlagen von Gerald Scarfe.

Für den Film wurden die meisten Stücke remixed bzw. mit aufwändigeren Arrangements u.a. von Micheal Kamen ergänzt, einige in der Länge dem Film angepasst, einzelne Stücke nachproduziert (“The Tigers broke free”) bzw. nicht für den Soundtrack verwendet (“The show must go on”). ANOTHER BRICK IN THE WALL PART II wurde remixed, um eine Sologitarre ergänzt, der Kinderchor bearbeitet und gekürzt und die Sätze des Lehrers von dessen Darsteller im Film, Alex McAcoy, neu aufgenommen und interpolierend den Kinderchorpassagen eingefügt.

Dem Album, der Liveinszenierung und dem Film liegt in leichten Varianten ein und dieselbe Geschichte zugrunde. Pink, der seinen im Zweiten Weltkrieg gefallenen Vater nie kennengelernt hat, wächst überbehütet allein mit seiner Mutter im Nachkriegsengland auf. Ein autoritäres Schulsystem versucht sein Streben nach Kreativität und Individualität bereits im Keim zu ersticken. Pink wird erfolgreicher Rockmusiker und verliert sich, nachdem ihn seine Frau verlässt, während er auf Tour ist, immer weiter in einem Nebel von Drogen, Isolation, Erinnerungen und Halluzinationen, in denen das messianische Charisma des Stars in faschistische Allmachtphantasien umschlägt.

Das knapp 50seitige “Drehbuch” des Films war aus Nachschriften von Gesprächen zwischen Waters, Parker und Scarfe entstanden. Scarfe war bereits für die Animationsfilme der Bühnenshows von The Wall zuständig gewesen und hatte zahlreiche prägnante visuelle Ideen beigesteuert, so z.B. den Schüler zermalmenden Fleischwolf, der in der Bühnenshow in einem Zeichentrickfilm zu sehen war und der für den Kinofilm als lebensgroße Requisite realisiert wurde, welcher das zentrale Motiv der Inszenierung von ANOTHER BRICK IN THE WALL PART II im Film darstellt.

In seinem künstlerischen Nachdenken über das Verhältnis von Popularität und Einsamkeit, Masse und Individualität, Kreativität und sozialem Umfeld, hatte sich Waters von der Band entfernt. Trotz Gilmours erheblichem Beitrag zu The Wall war mit dieser Produktion der Wandel des Songwriter- und Improvisationskollektivs Pink Floyd (A Sourcer Full of Secrets, 1968) hin zu “Roger Waters mit Begleitband” vollzogen, der zuerst zum Ausstieg von Rick Wright und schließlich zur Auflösung der Band führte. Der Preis für die hochkomplexe Inszenierung der Shows war das Wegfallen von Spielräumen, etwa für die eminente Improvisationskunst von David Gilmour.

II. Kontext

ANOTHER BRICK IN THE WALL PART II ist an der Oberfläche ein Protest-Song gegen das rigide System der Boarding Schools in England, stellvertretend für die autoritäre Nachkriegspädagogik und die Probleme einer kriegsbedingt vaterlosen Generation (ähnlich The Who’s Film Tommy). Der Filmregisseur Alan Parker inszenierte daraus das vielschichtige “Drama eines begabten Kindes”, in dem er neben Kriegstraumatisierungen, historischem und alltäglichem Faschismus auch die ambivalente Rolle des Rockstars ausleuchtet, wobei die Bezüge zu Waters (und Syd Barretts) Biographie allgegenwärtig sind.

Im Film wird ANOTHER BRICK IN THE WALL PART II als Tagtraum des kleinen Pink interpretiert. Dieser nimmt in der Phantasie mit seinen Mitschülern Rache an der industriellen Knochenmühle eines entindividualisierenden Schulsystems und allen voran am Lehrer, der ihn vor versammelter Klasse wegen eines selbstverfassten Gedichts der Lächerlichkeit preisgegeben hatte.

III. Analyse

Der Refrain lautet: “All in all you’re just another brick in the wall.” Die Metapher der Mauer steht bei Waters für Isolation. In einem Interview spricht er davon, der Gedanke einer Mauer zwischen sich und dem Publikum sei ihm in der beklemmenden Anonymität der großen Stadionkonzerte gekommen. Konsequenterweise ließ sich die Band bei den aufwändigen szenischen Bühnenpräsentationen der Rock-Oper in der ersten Hälfte des Konzertes Stein für Stein mit riesigen Pappelementen bis zur völligen Unsichtbarkeit einmauern, um in der zweiten Konzerthälfte die meiste Zeit stellvertretend eine “surrogate band” auf der Vorderbühne agieren zu lassen, während die Mauer für die Projektionen und als Hintergrund für gigantische Marionetten diente, bevor sie zum Ende der Show “gesprengt” wurde.

An ANOTHER BRICK IN THE WALL PART II wird deutlich, wie sehr sich auf The Wall Musikalisches und Szenisches durchdringen, bzw. wie stark die Songs bereits szenisch angelegt sind.

Die grotesken Drohungen und Befehle des Lehrers (“If you don’t eat your meat, you can’t have any pudding!”) erscheinen gleichsam als Bestandteile der Komposition.

Im Text ist nicht von “ich”, sondern von “wir” die Rede – die Selbstbefreiung scheint also nur im Kollektiv denkbar. Dabei ist die schlechte Pädagogik der Boarding Schools im Allgemeinen und der, seiner Frau gegenüber unterwürfige und zu den Kindern grausame Lehrer im Besonderen ein weiterer Stein der Mauer, welche die Isolation des heranwachsenden Pinks versinnbildlicht. Dass sich der Text gegen eine schlechte und nicht gegen jegliche Art von Erziehung wendet, scheint auch in der doppelten Negation des Refrains auf: “We don’t need no education”.

Der Song zeichnet sich neben seiner so einfachen wie einprägsamen Strophe-Refrain-Solo-Form durch Waters markante Basslinie und die vielschichtige und filigrane Gitarrenarbeit von David Gilmour aus, der für den Song nicht nur ein nachgerade klassisches Gitarren-Solo erarbeitete, sondern ihm auch seine im Vergleich zu Waters eher raue Stimme lieh.

Der Narration des Konzeptalbums bzw. der später von Alan Parker verfilmten “Rock-Oper” folgend, werden die Versionen sukzessive atmosphärisch dichter bzw. im Duktus aggressiver.

IV. Rezeption

ANOTHER BRICK IN THE WALL PART II wurde für den Grammy nominiert und erreichte Platz 1 in den Charts sowohl in den USA als auch in den meisten westeuropäischen Ländern und wurde damit die erfolgreichste Single in der Karriere von Pink Floyd. Das Album gilt, Stand: November 2011, mit 30 Millionen verkauften Kopien als erfolgreichste Doppel-LP/CD in der Musikgeschichte. Das Stück ist Nr. 375 auf der Rolling Stone Liste der 500 besten Stücke aller Zeiten. Weltweit ist es die Hymne aufbegehrender Teenager. Im Südafrika der Apartheid war ANOTHER BRICK IN THE WALL PART  II verboten, nachdem die Anhänger eines antirassistischen Schulboykotts sich den Song angeeignet hatten. Dass dieser Song gegen Uniformität es auf eine niedere Platzierung der US-Discocharts schaffte, erscheint wie ein Sinnbild der Zerbrechlichkeit des kritischen Potentials bzw. der Autorenintention in der Popmusik.

Dem technischen Können von Ingenieur/Produzent James Guthrie ist es zu verdanken, dass The Wall klanglich einer der ersten vollgültigen Musikfilme wurde und die Doppel-LP noch heute als Referenzgröße klanglicher Transparenz gilt. (Bei der Premiere in Cannes wurde eine zusätzliche Beschallungsanlage hinter der Leinwand platziert und der Film wurde auf Konzertlautstärke wiedergegeben.) Roger Waters realisierte The Wall – u.a. im gerade wiedervereinigten Berlin – noch mehrmals ohne Pink Floyd.

 

MATTHIAS TISCHER


Credits

Gesang: David Gilmour, Roger Waters, Richard Wright
Gitarre: David Gilmour
Bass: Roger Waters
Keyboard: Richard Wright
Schlagzeug, Percussion: Nick Mason
Text: Roger Waters
Produzenten: Roger Waters, David Gilmour, Bob Ezrin, James Guthrie
Aufnahme: April bis November 1979
Veröffentlichung: 30. November 1979
Länge: 3:59 (Album Version)
3:10 (Single Edit)

Recordings

  • Pink Floyd. “Another Brick In The Wall Part 2”, The Wall, 1979, Harvest, 1C1981634103, Deutschland (2xLP/Album).
  • Pink Floyd. “Another Brick In The Wall Part 2”, The Wall, 1979, Harvest, SHDW 411, UK (2xLP/Album).
  • Pink Floyd. “Another Brick In The Wall Part 2”, Another Brick In The Wall (Part II), 1979, Harvest, HAR 5194, UK (7″/Single).
  • Pink Floyd. “Another Brick In The Wall Part 2”, Another Brick in The Wall (Part II), 1979, Harvest, 1C00663494, Deutschland (7″/Single).
  • The Wall. Regie: Parker, Alan. Drehbuch: Waters, Roger. SMV Enterprises, 1999 (DVD/501987).

References

  • Alice Cooper. “School’s Out”. Auf: School’s Out, 1972, Warner Bros. Records, BS 2623, Kanada (LP/Album).
  • The Radio One Wall Interview. Interviewer: Tommy Vance. BBC, November 12, 1979.
  • Povey, Glenn: The Complete History of Pink Floyd. Chicago. Chicago: Chicago Review Press 2005.
  • Bench, Jeff/O’Brien, Daniel: Pink Floyd’s The Wall. In the Studio, On Stage and On Screen. London: Reynolds and Hearn 2004.

Links

About the Author

Matthias Tischer (Prof. Dr. habil.) teaches Social Work, Esthetics and Communication with focus on Culture and Music at the University of Applied Sciences Neubrandenburg.
All contributions by Matthias Tischer

Citation

Matthias Tischer: “Another Brick in the Wall (Pink Floyd)”. In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Ed. by Michael Fischer, Fernand Hörner and Christofer Jost, http://www.songlexikon.de/songs/anotherbrick, 11/2011 [revised 10/2013].

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